Zur Ruhe kommen

Das Thema Zeit & Zeiterleben interessiert mich sehr. Wir leben in einer – für meine Begriffe – schnelllebigen und herausfordernden Zeit. Eine Zeit, in der man für sich selbst gut schauen muss, dass man zwischendurch aus dem Hamsterrad des Alltags tritt, um durchzuschnaufen. Mit Ruhe durch das Leben zu gehen ist heute beinah eine Kunst geworden. Einerseits sind da das Tempo der Welt, die Vielzahl der Erledigungen im Alltag, die unerschöpfliche Zahl an Möglichkeiten. Andererseits stehen auch Ungeduld, Ambitionen, akute Bedürfnisse etc. in unserem Inneren dem Zur-Ruhe-kommen entgegen.

Ich habe den Eindruck, dass heutzutage vielen Menschen das schnelle Tempo unserer Zeit und die Fülle der To Do´s schon (fast) „zu viel“ sind. Ich kenne das auch von mir selbst ganz gut. Wahrscheinlich war das „zu viel“ vergangener Lebensphasen der Grund, dass mich die Themen Ruhe und Entschleunigung so sehr zu interessieren begonnen haben. Es ist sicher kein Zufall, dass sich in meinem Regal Bücher mit Titeln wie „Herzensruhe“, „Muße“ und sogar „Langeweile“ sammeln. Sie stehen ganz entspannt nebeneinander – bis ich mir Zeit nehme und eines von Ihnen zur Hand nehme.

Glücklicherweise stelle ich fest, dass ich mehr und mehr gelernt habe, mir solche Zeit zu nehme. Das war eine intensive Auseinandersetzung mit mir selbst, ein Aufbohren der eigenen Überzeugungen tief im Inneren, die behaupteten: „Je mehr du in deiner Zeit machst, desto besser“ – und die letztendlich für mich so gar nicht stimmten. In einem der Bücher in meinem Regal1 fand sich ein Gedanke von Karlheinz Geißler, der für mich viel mehr Sinn machte: nämlich, dass unterschiedliche Zeiten ihre ganz unterschiedlichen Zeitqualitäten haben. Mit inspirierendem Wissen wie diesem gelang es mir, Schritt für Schritt meine Einstellungen zu ändern und mehr und mehr zur Ruhe zu kommen.

„Ich komme zur Ruhe.“ Je mehr ich über diesen Satz nachdenke, desto mehr frage ich mich: Ist das nicht falsch herum gedacht? Ist Ruhe etwas, zu dem ich kommen muss? Oder kommt die Ruhe zu mir, wenn ich mich geschickt anstelle?

Klarerweise können uns Orte, Rituale, etc. helfen, ruhig zu werden. Am Strand zu liegen oder auf Berge zu steigen – da bekommt man den Kopf gut frei. Von einem Aussichtsbankerl in den Sonnenuntergang zu schauen oder entspannt in der Badewanne oder am Sofa zu relaxen… das hilft schon. Andererseits kann man auf den schönsten Bankerl oder an den schönsten Stränden sitzen und den Kopf immer noch voll haben.

Das Wesen der Ruhe muss dann also doch etwas anderes sein. Scheinbar dürfte das Wort „Ruhe“ indogermanischen Ursprungs sein und ursprünglich auch „von etwas ablassen“ bedeutet haben. Diese Bedeutung scheint mir stimmig: Im Zuviel von etwas ablassen.

Die eigentliche Ruhe – das scheint mir die Ruhe in unserem Inneren zu sein. Sie scheint in Dialog mit sich selbst im eigenen Inneren, in dem vom Höher-Schneller-Weiter-Mehr abgelassen wird. Entschleunigung, Besinnung, Mäßigung und Achtsamkeit sind die Folgen.

Ein anderes Wort für eine ganz wichtige Facette von Ruhe ist vielleicht „Gelassenheit“: das, was gerade nicht vorrangig ist, sein zu lassen und sich dem, was gerade ist, zu widmen. Ich zitiere selten Päpste, aber für „Il Papa buono“ und eine Passage aus seinem „Dekalog der Gelassenheit“ will ich eine Ausnahme machen.

(Johannes XXIII)

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  1. Harald Lesch/Karlheinz Geißler/Jonas Geißler (2021): Alles eine Frage der Zeit ↩︎


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